16. Jan 2010

Die Mittagsfrau – das Porträt einer gebrochenen Frau

Kategorien: Bücher

Laut einer slawischen Sage wohnt die Mittagsfrau in den Kornfeldern, erscheint täglich Schlag zwölf in weißem Gewand und stellt den Feldarbeitern Fragen zum Flachsanbau. Wer diese beantworten kann, bleibt verschont, Unwissenden hackt die Mittagsfrau den Kopf ab. Ähnlich Brutales, zumindest auf der psychischen Ebene, vermittelt Julia Franck in ihrem Roman Die Mittagsfrau, der im Grunde eine Chronik der beiden Weltkriege und der Zwischenkriegszeit ist.

Julia Franck entrollt die Geschichte vom Ende her: Bei der Flucht vor den Russen lässt die Krankenschwester Helene ihren siebenjährigen Sohn am Bahnhof stehen und verschwindet – die traurige Konsequenz des Lebens einer Frau, die selbst kaum Liebe erfahren hat und der die Liebe ihre Kindes unerträglich wird. Von den Männern enttäuscht, von der Familie verlassen, fasst Helene schließlich diesen Entschluss, der so grausam ist, wie die Schicksalsschläge, die sie selbst erfahren hat.

In Rückblenden wird ihre Kindheit mit einem Vater, der schwer verletzt aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt, und einer gefühlskalten Mutter illustriert. Gemeinsam mit ihrer Schwester Martha entflieht Helene diesem trostlosen Milieu durch einen Umzug zur Tante nach Berlin, wo sie gemeinsam die Goldenen Zwanziger durchleben – mit all ihren Höhen und vor allem Tiefen: Helenes erste große Liebe endet tragisch. Carl, ihr Verlobter, verunglückt tödlich und lässt eine gebrochene Frau zurück. Völlig abgestumpft gibt sie einige Zeit später dem Werben des Nazis Wilhelm nach, durchleidet die Ehehölle – und bekommt einen Sohn.

„Die Mittagsfrau“ entwirft am Psychogramm einer gebrochenen Frau das Panorama einer erbarmungslosen Zeit. Besonders fesselnd ist einerseits die sprachliche Virtuosität der Autorin Julia Franck, andererseits die Darstellung der beklemmenden Kälte einer gefangenen Seele. Es gibt kein Gut und Böse in diesem Roman, es gibt nur die Wahrheit einer Frau in einer menschenfeindlichen Zeit.

Geschrieben von: Sandra Maria Bernhofer.

Die Mittagsfrau – das Porträt einer gebrochenen Frau
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